05. Juni 2020
Im Zusammenhang mit den zunehmenden Lockerungen wurde immer wieder von der sogenannten „neuen Normalität“ im Umgang mit Corona gesprochen. Gemeint war meist, dass die Veränderungen im Alltag langfristig unsere Realität prägen werden. Obwohl es vielen Menschen in Deutschland inzwischen gelingt, sich auf den Alltag mit den Folgen der Corona-Pandemie einzustellen, kann jedoch in vielerlei Hinsicht nicht von einer Normalität gesprochen werden.
Viele Menschen haben finanzielle oder soziale Not und keinen verlässlichen Alltag. Dem Einzelnen wird ein hohes Maß an Belastbarkeit und Flexibilität abverlangt. Diese Anpassungsleistungen kosten Kraft und führen nicht selten zu Erschöpfung.
Die Situation ist immer noch geprägt von Angst vor Ansteckung oder von Sorge um gefährdete Angehörige sowie von großer Unsicherheit und Unberechenbarkeit in Bezug auf das eigene Leben, die Situation in Deutschland oder global. Die fortwährend neuen Informationen über das Virus und seine Folgen müssen verstanden, verarbeitet und auf das eigene Leben angewandt werden. Z.B. muss jeder für sich kontinuierlich klären, welchem Risiko er sich aussetzt. Dabei ist ein hohes Maß an Medienkompetenz notwendig, um einzuschätzen, welche Quellen seriös sind und welche Informationen wichtig sind. Gleichzeitig gibt es viele offene Fragen, die unbeantwortet bleiben und Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft.
Diese weiterhin beunruhigende Situation bietet den Boden für Verschwörungsdenken. Die Corona-Krise ist also auch eine psychologische Krise. Inzwischen sind nicht wenige Menschen mit Verschwörungserzählungen in ihrem Umfeld konfrontiert und fragen sich, wie sie damit umgehen können.
Prüfen lassen sich die Verschwörungserzählungen auf Fakten-Check-Portalen wie z.B. correctiv.org. Hier kann man sich seriös informieren. Wenn man mit Verschwörungsgedanken konfrontiert wird, sollte man gerade bei nahen Menschen die Auseinandersetzung suchen. Denn z.B. die Verharmlosung des Virus kann schädigende Folgen für den Betreffenden oder die Gemeinschaft haben. Gespräche sind jedoch oft schwierig, weil eindeutige Fakten einfach ignoriert werden.
Von Expertinnen wie der Psychologin und Forscherin zu Verschwörungstheorien Pia Lamberty wird empfohlen, frühzeitig zu intervenieren. Fragen ermöglichen, den Anderen zu verstehen und können dazu führen, dass die jeweiligen Annahmen geprüft werden. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die jeweilige Theorie oft für den Einzelnen eine Funktion im Umgang mit Angst und Hilflosigkeit in einer komplexen Realität hat. Sie kann Halt geben, weil sie einfache Antworten und Handlungsmöglichkeiten liefert und damit ein Gefühl von wieder mehr Kontrolle entsteht. Empathie für die individuellen Probleme oder die unübersichtliche aktuelle Situation kann helfen.
Es ist wichtig, sachlich und klar Position zu beziehen, aber darauf zu achten, dass die Situation nicht eskaliert, weil sich das Gegenüber nicht ernst genommen oder bedrängt fühlt und den Kontakt dann abbricht – eine Herausforderung.
Es kann sein, dass weder Fakten noch sensible Unterstützungsangebote im Umgang mit Unsicherheit helfen, zu dem Betreffenden durchzudringen und eine Verständigung unmöglich ist. Manchmal belastet das Beziehungen schwer, so dass es sinnvoll sein kann, sich Hilfe bei einer der Sektenberatungsstellen zu holen, die inzwischen auch zum Umgang mit Menschen beraten, die zunehmend in ihre eigene Verschwörungswelt abrutschen und nur noch schwer zu erreichen sind.
Diplom Psychologin Claudia Gutmann ist Leiterin der Psychoonkologie am AGAPLESION MARKUS KRANKENHAUS ins Frankfurt am Main.